Zwischen Tradition und Innovation: Wenn Möbelklassiker neue Geschichten erzählen

Von in Wohnen & Einrichten
Stahlrohr-Freischwinger S 64 von Thonet in der Reedition von Jil Sander

Wenn das Vertraute plötzlich überrascht: Warum Neuauflagen unsere Designherzen höher schlagen lassen

Es ist ein magischer Moment: Sie betreten einen Showroom und entdecken einen Stuhl, den Sie seit Jahren kennen und schätzen – doch irgendetwas ist anders. Die Proportionen sind vertraut, die Silhouette unverwechselbar, aber das Material, die Farbe oder die Oberflächenbehandlung erzählt eine völlig neue Geschichte. Willkommen in der faszinierenden Welt der Reeditionen, wo Designklassiker ihre zweite, dritte oder sogar vierte Jugend erleben.

Der Reiz des Bekannten im neuen Gewand

Was macht neue Ausführungen eines bekannten Entwurfs so unwiderstehlich? Es ist die perfekte Balance zwischen Sicherheit und Abenteuer. Wir kennen die DNA des Möbelstücks, vertrauen seiner bewährten Ergonomie und seinem zeitlosen Appeal – gleichzeitig bietet die Neuinterpretation genau jene Überraschung, die unsere designorientierten Herzen höher schlagen lässt.

ClassiCon Bell Table
ClassiCon Bell Table
ClassiCon Bell Table in zwei Größen mit Metallkörper aus Messing
Metallkörper aus Messing
ClassiCon Bell Table in drei Größen mit Metallkörper aus Aluminium
Metallkörper aus Aluminium, 2025

Eine Tradition mit Geschichte

Reeditionen sind keineswegs eine Erfindung des modernen Marketings. Schon die großen Designer des 20. Jahrhunderts experimentierten kontinuierlich mit ihren eigenen Entwürfen. Arne Jacobsen entwickelte seinen legendären Ant Chair in unzähligen Farbvarianten, Charles und Ray Eames probierten für ihre Stühle verschiedenste Materialien aus – von Fiberglas über Holz bis hin zu gepolsterten Versionen.

Was damals aus praktischen Erwägungen oder Materialverfügbarkeit entstand, wird heute gezielt als Designstatement eingesetzt. Jede Edition erzählt dabei ihre eigene Geschichte.

Thonet Freischwinger S 32 und S 64 von Marcel Breuer
Freischwinger S 32 und S 64 von Thonet

Besonders eindrucksvoll zeigt sich Serie der Reeditionen beim Freischwinger S 32 und 64. Der Bauhaus-Klassiker wurde 1928 von Marcel Breuer entworfen und wird seit 1930 von Thonet produziert, als erste Serienproduktion mit gebogenem Stahlrohr. Der Stuhl kombiniert einen klaren, rationalen Gestaltungsansatz mit handwerklicher Detailverliebtheit: ein verchromtes Stahlrohrgestell, Sitz und Rücken aus Holzrahmen mit Rohrgeflecht – und eine Form, die zugleich schwebend und stabil wirkt.

Im Laufe der Jahrzehnte wurde der Entwurf mehrfach überarbeitet und erweitert, um zeitgemäßen Anforderungen an Materialität, Nachhaltigkeit und Funktion gerecht zu werden. Dabei entstanden neben Erweiterungen (Bürodrehstuhl und Barhocker) auch bedeutende Reeditionen, zum Teil in Zusammenarbeit mit renommierten Designern, zuletzt mit Modedesignerin Jil Sander.

Freischwinger S 64 von Thonet in der ReeditionPure Materials mit Sitz und Rücken in Leder
Edition Pure Materials, 2022
Freischwinger S 64 von Thonet in einer Reedition von Sebastian Herkner mit grünem Sitz und schwarzem Geflecht
Herkner meets Breuer, 2024
Thonet Freischwinger S64 in der Sonderedition von Jil Sander mit hellem Holz, weißem Leder und farbigem Gestell
JS . Thonet, 2025
Thonet Freischwinger S 32 und S 64 in Ausführungen als Bürodrehstuhl, Sessel, Klassiker und Barhocker
Vlnr: S 64 Atelier (2019), S 32 Lounge (2023), S 32 (1928) | S 32 VH (2020)

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Die Kunst der respektvollen Revolution

Der Panton Chair - Farbe als Designsprache

Verner Pantons revolutionärer Freischwinger von 1967 war bereits im Original ein Statement für Farbe und Form. Vitra hat diese Vision konsequent weiterentwickelt und den Stuhl in einer beeindruckenden Palette von über 20 Farbtönen produziert - von klassischem Weiß und Schwarz über leuchtende Primärfarben bis hin zu subtilen Pastelltönen. Jede Farbvariante verändert die Wirkung des Stuhls fundamental: In Rot wird er zum dramatischen Blickfang, in sanftem Grau zum zurückhaltenden Begleiter. Die "Classic"-Version mit hochglänzender Oberfläche bringt den ursprünglichen 60er-Jahre-Glamour zurück und zeigt, wie eine Oberflächenbehandlung die gesamte Ausstrahlung eines Möbelstücks transformieren kann.

Vitra Panton Chair Classic in Rot, angeboten bei used-design.com
Vitra Panton Chair Classic in Rot
Vitra Panton Chairs, Panton Mini und Panton Miniatur
Panton Chair und Panton Mini | Bild: Vitra

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Thonet 214 - Ein Jahrhundert der Variationen

Der Wiener Kaffeehaus-Stuhl von 1859 ist vielleicht das beste Beispiel für die Langlebigkeit intelligenter Reeditionen. Über 150 Jahre hinweg hat Thonet den Grundentwurf respektiert, aber unzählige Variationen in Holzarten, Oberflächenbehandlungen und sogar Proportionen entwickelt. Von hellem Buchenholz über dunkle Nussbaum-Varianten bis hin zu farbig gebeizten Versionen - jede Interpretation behält die charakteristische Eleganz der geschwungenen Linien bei, erzählt aber eine andere Geschichte. Besonders faszinierend: Auch die Flechtung der Sitzfläche wurde immer wieder neu interpretiert, von traditionellem Wiener Geflecht bis zu modernen Varianten.

Bugholz Stuhl-Klassiker 214 von Thonet mit Geflecht in Sitz und Rücken
214
Thonet 214 - der Bugholz Stuhl-Klassiker in verschiedenen Versionen
214 Reeditionen
Thonet Bugholzstuhl 214 in der Pure Materials Reedition mit Sitzfläche aus Leder
214 Pure Materials

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Designer-Kooperationen: Wenn zwei Visionen verschmelzen

Besonders spannend wird es, wenn etablierte Manufakturen zeitgenössische Designer einladen, ihre Klassiker neu zu interpretieren. Ein exemplarisches Beispiel ist die Kooperation zwischen Jil Sander und Thonet. Die international gefeierte deutsche Modedesignerin, die für ihre puristische Ästhetik bekannt ist, wagte sich erstmals in die Welt des Möbeldesigns vor und interpretierte den ikonischen Freischwinger S 64 von Marcel Breuer neu.

Stahlrohr-Freischwinger S 64 von Thonet in der Reedition von Jil Sander
S 64 Nordic 04
Stahlrohr-Freischwinger S 64 von Thonet in der Reedition von Jil Sander
S 64 Serious 02
Stahlrohr-Freischwinger S 64 von Thonet in der Reedition von Jil Sander
S 64 Serious 05

In ihrer Signature-Kollektion "JS . THONET" verleiht Sander dem Bauhaus-Klassiker in zwei Gestaltungslinien – "Serious" und "Nordic" – neue Eleganz: hochglanzlackierte Holzdetails treffen auf veredelte Stahlrohrgestelle, nuanciert abgestimmte Farbtöne schaffen subtile Kontraste. Diese Kollaboration zeigt perfekt, wie zeitgenössische Designer mit Respekt an Klassiker herangehen: Sander verstand die reduzierte DNA des S 64 und übersetzte ihre eigene minimalistische Handschrift behutsam in das Medium Möbel – nicht um das bewährte Design zu übertönen, sondern um es mit ihrer charakteristischen Präzision zu veredeln.

Stahlrohr-Freischwinger S 64 von Thonet in der Reedition von Jil Sander
S 64 Serious 01

Solche Kooperationen funktionieren dann am besten, wenn beide Seiten verstehen, dass es nicht um Verbesserung geht – ein Klassiker ist per Definition bereits perfekt – sondern um Übersetzung in eine neue Zeit, einen neuen Kontext, eine neue Sprache.

Lebendige Klassiker im modernen Zuhause

Die Frage, die sich viele Designliebhaber stellen: Sind Reeditionen primär für Sammler interessant oder können sie den Alltag bereichern? Die Antwort ist eindeutig: Reeditionen sind in erster Linie für das Leben gemacht. Während manche limitierte Sondereditionen durchaus als Wertanlage dienen können, liegt der wahre Wert einer Reedition in ihrer Alltagstauglichkeit und zeitlosen Schönheit.

Entscheidend ist die Erkenntnis, dass diese neu aufgelegten Klassiker nicht als museale Objekte konzipiert wurden, sondern als lebendige Möbel für moderne Wohnwelten. Wer ein Möbelstück kauft, weil es ihn täglich erfreut und seinen Wohnraum bereichert, trifft immer die richtige Wahl – unabhängig von Sammlerstatus oder Wertsteigerung.

Wenn Möbel Geschichten erzählen

Am Ende geht es bei Reeditionen um mehr als nur Design oder Materialien – es geht um die Geschichten, die unsere Möbel erzählen. Jede Neuinterpretation eines Klassikers ist ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem ursprünglichen Visionär und dem zeitgenössischen Interpreten. Sie ermöglichen es uns, Teil dieser kontinuierlichen Designerzählung zu werden.

Ob nun Jil Sanders minimalistische Präzision auf Breuers funktionalen Purismus trifft oder Pantons farbenfrohe Vision in immer neuen Nuancen erstrahlt – Reeditionen beweisen, dass wahrhaft gutes Design niemals abgeschlossen ist. Es lebt, entwickelt sich weiter und findet immer wieder neue Wege, uns zu überraschen und zu begeistern. In einer Welt voller kurzlebiger Trends sind sie kostbare Zeugnisse dafür, dass Schönheit und Funktionalität zeitlos bleiben – auch wenn sie sich immer wieder neu erfinden.

Titelbild: JS . Thonet | Bild: Hartmut Nägele
Bilder: ClassiCon, Thonet, Vitra